Nur keinen Streit vermeiden – Soziales Muskeltraining in der Familie

von | 23. Oktober 2020 | Eltern werden, Eltern sein, Miteinander leben, streiten, wachsen

Wer mag schon Streit? Und dann noch in der Familie, die wir uns als kuscheliges Nest wünschen, mit harmonischer Freizeit und liebevoller Unterstützung. Wir haben die besten Vorsätze, viele Ratgeber gelesen und vielleicht Gewaltfreie Kommunikation gelernt. Doch dann schreit die Mutter regelmäßig die Kinder an, die Eltern geraten wegen Kleinigkeiten aneinander und Geschwister schlagen nicht nur mit Worten aufeinander ein. Wenn wir das alles nicht mehr aushalten, gehen wir in die nächste Beratungsstelle – und erfahren dort, dass es eine Illusion ist, ohne Streit auszukommen.

Beate Dittrich, Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin, in der ambulanten Jugendhilfe tätig, rät Eltern, sich in Konflikten erst mal selbst „runterzufahren“. Unter Stress funktioniert unser Gehirn unzureichend und zu schnelle Reaktionen aus Wut und Verletzung verhindern das Zuhören, das für die erfahrene Beraterin an oberster Stelle steht. Jeder sollte zunächst mit seinem Erleben der Situation ausführlich gehört werden. Dann kann man staunen, in welch unterschiedlichen Wahrnehmungswelten die Beteiligten meist sind, wenn der Satz fällt: „Das stimmt doch gar nicht!“

Auch wenn manches unbegreiflich erscheint, gilt für Beate Dittrich, die Unterschiede anzuerkennen, denn: „Jede/r hat einen guten Grund für sein Handeln“. Allein den zu erfahren, schaffe Verbindung. Im Streit neigen viele dazu, die Beziehung abzubrechen. Das müsse nicht sein.
Die Beraterin arbeitet gerne mit kleinen Tierfiguren, die sie von den Klienten auswählen und aufstellen lässt: „Wenn eine Mutter feststellt, dass sie Löwenkinder hat, wird sie als kuscheliges Schaf Mühe haben, dann muss sie sich auf das Wesen ihrer Löwenkinder einstellen“. Solche Feststellungen können sehr entlastend wirken.

 

 

Als besonderen Stressfaktor empfindet Dittrich, wenn Eltern besondere Vorstellungen von der Erziehung ihrer Kinder haben. „Mütter setzen sich selbst stark unter Druck, wenn sie meinen, ihren Kindern ständig etwas bieten und alles kontrollieren zu müssen. Sie kämpfen mit einem schlechten Gewissen, wenn das nicht klappt. Kinder trotzen oft dagegen an und können die wichtige Selbstwirksamkeit nicht lernen“. Die Fachfrau rät, nicht nur die Defizite der Kinder auszugleichen, sondern auch ihre Stärken zu fördern, ihnen nicht zu viel Programm anzubieten, sondern auch Freiräume, und zuzulassen, „dass sein darf, was ist“.
Zwischen den Eltern sei es wichtig, den Wunsch nach Nähe und Autonomie auszubalancieren und die Elternebene von der Paarebene zu trennen. Wenn es in Alltagsfragen viele Streitpunkte gibt, könne es hilfreich sein, abzuwechseln zwischen Führen und Folgen – heute darf ich bestimmen, morgen du. Das helfe auch Kindern weiter.

Ausgetragener Streit kann also eine gute Übung sein, die „sozialen Muskeln“ zu trainieren und sich für eigene Bedürfnisse einzusetzen.
Kinder sind da gute Vorbilder. Sie spüren sehr gut, wenn ihnen „etwas fehlt“, sie etwas Wesentliches brauchen. Das drücken sie unmittelbar aus, mit Weinen und Schreien. Leider wird das oft unterbunden, mit Sätzen wie: „Du musst doch jetzt nicht weinen“ oder „Wenn du so wütend bist, mag ich mit dir nicht reden“. So wissen Erwachsene später oft gar nicht mehr, was sie fühlen und brauchen und erst recht nicht, wie sie es mitteilen. Kinder sind mit Streit oft schnell fertig und finden erstaunliche, kreative Wege zur Versöhnung und Einigung. Davon können die Großen durchaus lernen.

Das beobachte ich mit Freude in unserer Mehrgenerationen-Hausgemeinschaft mit 100 Menschen, in der ich seit 7 Jahren wohne. Viele Streitigkeiten habe ich hier schon erlebt, damit gehadert, doch auch gestaunt, wie sich auch Aussichtsloses löst und wir uns allmählich dabei entwickeln.

 

 

Mein Tipp: Beim nächsten Streit tief durchatmen und mich fragen, worum es mir jetzt wirklich geht, welcher meiner Werte verletzt ist – Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen, dann mit Bitten äußern, was ich gerne hätte – damit sichtbar und verstehbar werden und immer öfter bekommen, was ich wirklich brauche.

 

Karin Charlotte Melde ist Autorin und Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation.

Der Beitrag ist die Kurzfassung eines längeren Artikels, der in „Knirpse & Co“ erschienen ist, einem regionalen Magazin für Familien (Ausgabe März-Juni 2019).

 

Bildnachweis: AdobeStock, Rawpixel

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