Horst Schwarz ist ein Nürnberger Märchen- und Jugendbuchautor und Märchenerzähler. Holger Trautmann hatte ihn im Rahmen der Laufer Märchentage im September 2011 dazu. Wir dürfen dies Interview hier veröffentlichen:

Brauchen Kinder Märchen?

Als ich Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts Vorträge zum Thema Märchen in Kindergärten und Volkshochschulen hielt, traf ich oft auf Eltern, die den Märchen mit großer Skepsis und Misstrauen gegenüberstanden. Diese alten Erzählungen, von den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm vor 200 Jahren gesammelt und aufgeschrieben, so hielten mir viele Erwachsene vor, seien doch wohl überholt und ihre Aussagen und ihre Moral nicht mehr dem heutigen pädagogischen Standard entsprechend. Es hat lange gedauert, bis diese Vorurteile abgebaut waren, denn Ende der sechziger Jahre hatte die antiautoritäre Erziehung die Märchen aus den Kinderzimmern verbannt, sodass die neue Elterngeneration nun behutsam an diese Literaturgattung herangeführt werden musste. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich nur akademisch und nicht erzählend mit den Märchen beschäftigt. Motiviert durch meine eigenen drei Kinder, begann ich dann zu erzählen. Zuerst im häuslichen Kinderzimmer, dann in Kindergärten, Schulen, Büchereien usw. Und je öfter ich mit Kindern zusammensaß, und in ihre interessierten Gesichter schauen durfte, wusste ich: Kinder mögen und brauchen Märchen.

 

Bei näherer Betrachtung nämlich liegt die Größe und Bedeutung des Märchens darin, dass es unerschöpflich Tiefes, Wirkliches und Wichtiges über den Menschen zu sagen weiß. Außerdem stellt es in immer noch gültiger und brauchbarer Weise seelische und zwischenmenschliche Grundkonflikte dar und bietet eine Anleitung zur Überwindung an. Dabei verschweigen die Märchen auch nicht, dass diese Welt voller Gefahren und Schwierigkeiten ist, die immer wieder neu erlebt, bekämpft und überwunden werden müssen.
Die Welt des Kindes ist groß und reich. Hier gibt es Liebe und Hass, Begehren, Neid und Eifersucht. Es herrscht Angst, und es findet sich der Glaube an Wunder und die Verzauberung durch Schönes und Unfassbares. So wie die Welt des Kindes, so ist auch die Welt des Märchens. Deshalb können sie eine gute Unterstützung in der Erziehung sein, weil sie nie aufhören dem Kind zu sagen, dass etwas Wunderbares, etwas Königliches in ihm steckt.

Oft findet sich das Kind in der Hauptperson des Märchens wieder und durchlebt mit ihr alle Höhen und Tiefen. Am Ende empfindet es den Sieg über das Böse so, als ob es selbst davon betroffen wäre. Alle Märchen kennen das Gesetz der ausgleichenden Gerechtigkeit: der Schwache, der Gedemütigte oder der Vereinsamte wird, wenn er dem Gutem treu bleibt, am Ende belohnt, der Ungerechte oder Selbstherrliche wird am Ende zerstört.

Dass Märchen aber auch auf die Schule vorbereiten können, vermuten die wenigsten Eltern. Das Kind lernt Zuhören, sich zu konzentrieren, erfasst neue Begriffe und Redewendungen, wird mit Sprache und Literatur konfrontiert, seine Fantasie wird geschult und die Begeisterung am Lesen geweckt, denn eines Tages möchte es all die interessanten und spannenden Geschichten in Büchern selber nachlesen können.

Wie wichtig sind Erzähler für die Vermittlung von Märchen?

Das Märchen lebt vom gesprochenen Wort. Wer oft mit Kindern zusammen ist weiß, wie sehr sie sich im Zeitalter der alles beherrschenden Medien wieder mehr nach Zuwendung sehnen, wie sehr sie sich anlehnen möchten an einen Erwachsenen, der ihnen Aufmerksamkeit und Geborgenheit schenkt. Hier liegt die große Chance für den Erzähler / die Erzählerin, denn während des Erzählens wendet er / sie sich intensiv dem Kind zu, lässt es teilhaben an all den wundersamen Begebenheiten und es entsteht eine lebendige Beziehung zwischen beiden.
Dabei kommt es nicht primär auf die Art und Weise des Vortrags an, sondern für Kinder ist es wichtig, dass sie mit dem Erwachsenen Hand in Hand durch das Geschehen wandeln dürfen. Als mein Sohn etwa fünf Jahre alt war, hatte ich bereits meine erste Erzählkassette herausgebracht. Attraktiv erzählt und mit Gitarrenmusik umrahmt. Eines Abends bat er mich wieder um eine Geschichte. Da ich aus terminlichen Gründen unter Zeitdruck stand, bot ich ihm an, die Kassette zu hören, dort wäre ja meine Stimme drauf. Die Antwort des kleinen Kerls war überwältigend: „Aber Papa, sie hat doch keinen Schoß!“

Die Bitte des Kindes, ob wir ihm eine Geschichte vorlesen oder erzählen ist auch immer wieder mit der Frage verbunden: „Hast du Zeit für mich?“ Das Märchen ist für das Kind eine Schoßgeschichte, in der der Erwachsene sich ausschließlich ihm widmet und ihm seine ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung schenkt. Eine CD kann niemals das persönliche Erzählen ersetzen. Es gibt dem Kind höchstens die Möglichkeit, jederzeit auf den Kopf zu drücken, um die gewünschte Geschichte zu hören.
Eine Stimme allein genügt dem Kind auf Dauer nicht. Körperkontakt, Mimik, Gestik und die atmende Ausstrahlung des Erzählers / der Erzählerin sind von großer Bedeutung. Darum ist er oder sie eine wichtige Person zur Vermittlung des Märchens für den kindlichen Zuhörer.

Welche Zukunft hat das Märchen?

Das Märchen hat nur Zukunft, wenn es immer wieder Menschen gibt, die ihm treu verbunden sind und es lebenskräftig halten. Ich persönlich habe ein gutes Gefühl, dass Märchen auch in Zukunft von Generation zu Generation weitergegeben werden. Vielleicht ändert sich die Art und Weise der Vermittlung. CD und Film haben sich ja dieser alten Erzählungen, wenn auch nicht immer glücklich, bereits ausführlich angenommen.
So ist es wichtig, dass es auch weiterhin Menschen gibt, die sich der Erhaltung und Weitegabe der Märchen im lebendig gesprochenen Wort verpflichtet fühlen. In Gesellschaften und Vereinigungen wie z.B. „Die Dornrosen e.V.“ wird diese Tradition hochgehalten und gepflegt.
Auch Kinder werden durch ihr Interesse und mit ihrer Begeisterung dazu beitragen, dass das Märchen weiterlebt. Deshalb ist es mir um die Zukunft des Märchens nicht bange.

Welches ist Ihr liebstes Märchen?

Diese Frage ist für einen Erzähler nicht leicht zu beantworten. Alle Märchen, die ich erzähle, sind „liebste Märchen“, sonst hätte ich sie nicht in mein Repertoire aufgenommen. Dennoch gibt es Märchen, denen ich in meinem Erzählprogramm einen gewissen Vorrang gebe. Nachdem ich selber von Natur aus ein heiterer Mensch bin, der gern lacht und andere auch zum Lachen anstecken möchte, tendiere ich meist zu heiteren Erzählungen. Launig verpackte Lebensweisheiten wie etwa das orientalische Märchen von den zwei Hunden, die ihr eigenes Verhalten in einem großen Spiegel sehen und daher von sich auf andere schließen. Oder Märchen, die in humorvoller Weise erzählen, wie der Kleine, der Unbedeutende mit Gradlinigkeit, List und einer Portion Glück sein Ziel findet.

Aber auch schlichte und dennoch tiefgründige Erzählungen wie das kurze Grimm´sche Märchen vom „Süßen Brei“, zählen zu meinen Favoriten. In der meisterhaften Sprache der Brüder Grimm wird erzählt, wie ein Mensch etwas in Gang setzt, ohne sich vorher zu vergewissern wie es wieder zum Stillstand kommt: „Und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen“. Beispiele zu dieser Lebensweisheit lassen sich im aktuellen Tagesgeschehen jederzeit finden. Und hier schließt sich der Kreis: Ja, Kinder, aber auch Erwachsene, brauchen Märchen, diese uralten und immer wieder neu entdeckten Lebensweisheiten.

Quelle: Märchenzeitung des Märchenzentrums Dornrosen e.V., 19. Laufer Märchentage vom 08. bis 11.09.2011,
Interviewer: Holger Trautmann
Literatur: „Märchen zum Mitmachen für Kita-Kinder“, Verlag an der Ruhr, 19,95 €, ISBN 978-3-8346-2222 -8
„klein & groß“, 12/12, Oldenbourg-Verlag, S. 30 – 33