Zeugnis-Not(en)
Da ist er wieder, der Zeugnistag. Und da ist die Enttäuschung, weil meine 12-jährige Enkelin aufgrund der Noten von der Real-Schule in die Mittelschule „empfohlen“ wurde. Auch meine Tochter stimmte dieser Schritt traurig. Das Mädchen selbst nimmt es leichter und fühlt sich vom Druck befreit, bessere Noten schaffen zu müssen. Die Lehrerin meinte, es läge auch an der schwierigen Corona-Zeit, dass viele Kinder zurückgefallen sind in ihrer Leistung. Meine Enkelin erzählt, dass sie für Einser und Zweier verschiedene Euro-Beträge als „Belohnung“ bekommt. Mir scheint, wir sind noch längst nicht weg vom „alten“ Leistungsprinzip, das mich von jeher beklemmt hat.
Leider hängt weiterhin der Lebensweg junger Menschen von Schulnoten ab. Manche nehmen das Ganze sportlich und vergleichen gern ihre Zeugnisse mit Freunden und freuen sich über Geschenke, andere möchten sich und das Papier mit den Bewertungen am liebsten verstecken. Zwar vermitteln heutzutage immer mehr Pädagoginnen und Eltern, dass Noten nichts über unseren Wert als Mensch aussagen, dennoch gerät bei vielen das Selbstwertgefühl durch „schlechte“ Zeugnisnoten ins Wanken.
Je nach Bundesland, Schule und Jahrgangsstufe gibt es zwar statt reinen Noten von eins bis sechs differenzierte schriftliche Rückmeldungen zu Stärken und Lücken in den einzelnen Fächern. Besonders den „Kleinen“ will man damit den Druck nehmen, dennoch muss man sie ab einem gewissen Zeitpunkt daran gewöhnen, dass Erfolg von gewissen Leistungen abhängt, auch wenn man den Weg über Montessori-, Waldorf- und andere freie Schulen geht.
Belohnungssysteme für Zeugnisse seien laut Umfragen bei zwei Drittel aller Familien üblich. Besondere Anstrengungen oder eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum letzten Zeugnis wird damit gewürdigt. Nur ein kleiner Teil beschenke die Kinder einfach nur, weil ein Schulabschnitt geschafft ist, wofür Ausflüge beliebt sind. Doch für die meisten Eltern ist Geld weiterhin ein Mittel der Anerkennung, was wiederum das bestehende Leistungssystem bestärkt, das immer mehr Menschen, auch junge, in den Burnout führt.
Von einer Welt und Schule, in der soziale und kreative Kompetenzen für einen erfolgreichen Lebensweg wichtiger sind, sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Darunter leiden auch Lehrer. Der aktuelle erschreckende Mangel an Lehrkräften liegt unter anderem daran, dass diese für ihren Berufsweg überragende Notendurchschnitte vorweisen müssen, was wiederum gar nichts über ihre sozialen Fähigkeiten aussagt. Nur Grundschullehrer brauchen hierzulande eine umfassende pädagogische Ausbildung. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, im Schulsystem für Schüler*innen und Lehrer*innen endlich etwas zu ändern. In Bayern herrscht mehr Notendruck im Vergleich zu anderen Bundesländern, wo der „Übertritt“ in andere Schulstufen nicht von der Zeugnis-Durchschnittsnote abhängt.
Ein Hoffnungszeichen blinkt bei meiner Recherche im Internet auf: In einigen Bundesländern gibt es schon das Schulfach „Glück“, für das Lehrer*innen in einem Heidelberger Institut ausgebildet werden: https://www.fritz-schubert-institut.de/
Bis sich das Schulglück überall ausbreitet, helfen bei großem Kummer mit den Noten die Notrufnummern für Kinder und Eltern https://www.nummergegenkummer.de/
Der Kinderschutzbund empfiehlt, auf keinen Fall „Bestrafungen“ für Zeugnisse zu geben.
Über die Autorin:
Karin Charlotte Melde – Jahrgang 1958
Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation nach M.B. Rosenberg, Autorin, Leiterin von Schreibwerkstätten
Mutter einer Tochter / Großmutter von Zwillings-Enkelinnen
Bewohnerin eines Mehrgenerationenhauses mit 100 Nachbar*innen www.wingmbh.de
Kontakt: DIE WORTBINDEREI Text / Kommunikationstraining / Schreibcoaching
melde@wortbinderei.de
www.wortbinderei.de
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