Übergänge

von | 22. Oktober 2021 | Miteinander leben, streiten, wachsen

In den Jackentaschen finden sich Kastanien, der Sommer verkommt bereits zu einer Erinnerung und der erste Elternabend im Abschlussjahr der Grundschule hat auch schon stattgefunden. Von vielen Proben war da die Rede, von Notenschnitten und dem Übertrittszeugnis.

Im Klassenzimmer finden sich moderne Tafeln, eine engagierte Lehrerin und ein schrankgroßer Luftfilter, der beinahe lautlos vor sich hinarbeitet. Wir sind privilegiert, ich weiß das. Dennoch erahne ich schon den Ernst des Lebens, der sich wie ein drohender Schatten über die Kleinen schiebt, für die der Übertritt ein Übergang mit weitreichenden Folgen ist. In der vierten Klasse scheint mir, bleibt nicht allzu viel Zeit für die Neugier am Neuen und einen spielerischen Zugang zu den Lehrinhalten. Es geht um die strukturierte Vorbereitung auf die nächste Probe, Woche für Woche.

Ich spüre schon, wie der Druck bei unserem Neunjährigen steigt, er sich ausrechnet, welche Noten er in den einzelnen Fächern schreiben muss, um aufs Gymnasium gehen zu können. Ein Erfinder soll aus ihm werden, das weiß er meistens genau, und dafür müsste man wahrscheinlich studieren. Er will nichts wissen von zweiten Bildungs- und Umwegen und ich frage mich, wieso das unter den Kindern so verpönt ist. Die Klugen, die gehen nun einmal aufs Gymnasium. Was bedeutet das für alle anderen?

Es fällt mir schwer, zu akzeptieren, dass diese künstliche Spaltung so tief verwurzelt ist, dass sie unter den Lernenden von Generation zu Generation weitergetragen wird. Vielleicht liegt es daran, dass es in meiner Heimatstadt Hamburg längst ein Schulsystem gibt, das dieses Aussortieren und Eingruppieren von Kindern aufweicht, indem alle gemeinsam unterrichtet werden, und die Schülerinnen und Schüler selbstständig im Laufe ihrer Schulzeit dem nächsthöheren Abschluss entgegenwachsen können. In Bayern gibt es leider keine Gesamtschulen, und so begegnen mir in meiner Arbeit Familien, die an der Aufgabe, ihren Nachwuchs für das Gymnasium fit zu machen beinahe zerbrechen. Und solche, für die es nicht einmal vorstellbar scheint, dass das eigene Kind die Hochschulreife erlangen könnte.

Ich bin sehr gespannt, wie es uns als Eltern gelingen wird, die richtige Balance zwischen Unterstützung und Vertrauen zu finden, um unserem Sohn auf seinem Weg möglichst wenig im Weg zu stehen. Was mich beruhigt, ist der Gedanke an die enorme Anpassungsfähigkeit von Kindern, die es ihnen ermöglicht, sich an herausfordernde Umstände anzupassen und damit umzugehen. Davon können wir Großen uns sicher noch etwas Abschauen und sollten gut hinhören, wenn sie raten, doch einfach mal locker zu lassen.

Mein größter Wunsch für die längst fällige Reformierung des Schulsystems bleibt dennoch eine Schule für alle, in der die Fähigkeit, Fragen zu stellen gefördert und belohnt wird.

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