Schöner streiten*
Wenn mal wieder die Fetzen fliegen und die Türen knallen, ist es verlockend einfach abzutauchen, bis die Wogen sich wieder geglättet haben. Ich möchte uns an dieser Stelle aber lieber dazu ermutigen, den Streit wach und neugierig zu erleben und dabei jede Menge über das zu lernen, was eben nicht beim harmonischen Frühstück auf den Tisch kommt. Als Familie leben wir auf engem Raum zusammen und arrangieren uns mit unseren unterschiedlichen Bedürfnissen, so gut es geht. Ein Ungleichgewicht zwischen dem, was wir Eltern dürfen, und den Freiheiten unserer Kinder besteht natürlich trotzdem. Ich finde es richtig und wichtig, dass die Eltern zunächst einen Großteil der Entscheidungen für das Kind treffen und dabei zuverlässig und klar bleiben. Mit jeder neu erarbeiteten Fähigkeit und jedem Zentimeter Körpergröße, für die Ewigkeit am Türrahmen unseres Kinderzimmers festgehalten, spürt unser Großer deutlicher: „Das ist ungerecht! Ich will selbst entscheiden!“
Nein, es ist nicht schön, wenn alles eh schon hektisch ist und nur noch fünf Minuten bleiben, bis der nächste Termin ansteht. Mutter, schon komplett angezogen und deshalb mit hochrotem Kopf: „Wir müssen jetzt wirklich los, komm bitte!“
Sohn, hat noch nicht einmal die Schuhe an: „Ja gleich…!“
Mutter: „Du hast ja noch nicht einmal deine Schuhe an!?“
Sohn: „Ich muss noch aufs Klo.“
Mutter: „Ist das dein Ernst? Ich schwitz’ mich hier tot.“
Sohn: „Soll ich mir in die Hose machen?“
Mutter: „Ne, aber du hättest ja auch früher…“
Sohn: „Wenn du mich jetzt stresst, komme ich gar nicht mit!“
Mutter: „Es ist dein Arzttermin!“
Sohn: „Na und? Du willst, das ich da hingehe!“
Mutter: „Das ist ein Pflichttermin, alle Eltern müssen mit ihren Kindern zur Vorsorge gehen. Das ist zum Wohle der Kinder gedacht.“
Sohn, hält nun eine Zeitschrift in der Hand: „Mir doch egal.“
Es sind genau solche Situationen, die den Alltag manchmal zum reinsten Spießrutenlauf machen. Schöner streiten ist da schon eine Herausforderung. Trotzdem freue ich mich auch darüber, dass mein Kind lernt, alles Gegebene in Frage zu stellen. Ich denke nicht, dass wir streiten, weil er meine Grenzen austesten will. Vielmehr verstehe ich seine Wut als eine Fähigkeit, mit der er sich abgrenzen kann. Meine eigenen Grenzen zu wahren, ist meine Aufgabe. Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern hat eine besondere Dynamik aus Abhängigkeit und wachsender Autonomie. Natürlich will ein heranwachsendes Kind alles selbst entscheiden. Natürlich ist es für Eltern nicht sinnvoll, dem immer nachzugeben. Das sind gegensätzliche Interessen und die Kompromisse zu finden, die hier und heute für uns gut sind, gelingt zum Beispiel, wenn wir aktiv streiten. Wenn es uns gelingt, uns offen der Diskussion zu stellen und nicht auf einem vorher festgelegten Standpunkt zu beharren, sind wir offen für die Argumente unseres Gegenübers. Wenn jede und jeder zu Wort kommt und gehört wird, kann leichter eine Lösung entstehen, mit der alle leben können.
Eine achtungsvolle Grundhaltung unseren Kindern gegenüber hilft uns dabei, eine gleichwertige (jedoch nicht gleichberechtigte) Beziehung zu führen. Dazu gehört für mich zum Beispiel:
• Kommunikation auf Augenhöhe. Ich spreche so, dass du mich verstehst. Ich behaupte nicht, dass du etwas aufgrund deiner Fähigkeiten oder deines Alters nicht verstehen kannst.
• Ich achte deine Bedürfnisse. Wenn ich diejenige bin, die entscheidet, wann wir gehen, sage ich dir rechtzeitig Bescheid. So kannst du dich darauf vorbereiten, das Spiel beenden und dich von deinen Freunden verabschieden.
• Ich spreche meine Bedürfnisse deutlich aus und übernehme die Verantwortung für mein Befinden. Es ist nicht deine Aufgabe zu erkennen, wann ich erschöpft oder gestresst bin.
• Ich höre dir aufmerksam zu, wenn du mit mir sprichst. Ich behaupte nicht, deine Gefühle wären falsch. Das bedeutet aber nicht, dass ich die Verantwortung für deine Gefühle übernehme.
• Nicht jedes wichtige Thema kann sofort besprochen werden. Wenn es verschoben werden muss, vereinbaren wir gleich, wann wir darüber sprechen.
Das alles verhindert natürlich das Streiten nicht, aber es hilft, Kränkungen und Missverständnisse zu vermeiden. Viel Inspiration finde ich in den Büchern des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Von ihm stammen auch die folgenden Sätze:
„Der äußere Rahmen ist nicht so wichtig, so lange man sich für die Menschen wertvoll fühlt, mit denen man zusammenlebt. Dann kann man streiten, lachen und weinen. Dann kann jeder er selbst sein.“
*Dieser Artikel wurde am 8. Januar 2019 erstmals von uns veröffentlicht – wir finden es schön, ihn für die jetzt größer gewordene Leserschaft nochmals zu veröffentlichen.
Bildnachweis: Foto Rawpixel
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