Im Mehrgenerationenprojekt durch schwierige Zeiten

von | 10. Mai 2021 | Miteinander leben, streiten, wachsen

           

Nun leben wir schon 7 Jahre im Wohnprojekt Marthastraße in Nürnberg-Mögeldorf – 100 Menschen aller Generationen, vieler Nationen und ganz verschiedener Meinungen. Wir sind manchmal laut, mal im Streit, öfter am Feiern, bei allem sehr lebendig und in ständiger Kommunikation – und manchmal sind wir unsicher, was sich sehr unterschiedlich äußert. So auch in der Coronazeit. Bei den staatlichen Maßnahmen hat wohl niemand an das Leben in Wohnprojekten gedacht. Sollten wir alle in unseren Wohnungen bleiben, im Flur und Garten Masken tragen und Austausch nur noch online haben? Soll man die kleinen Kinder voneinander trennen, die es gewohnt sind, täglich im großen Garten miteinander herumzutollen. Müssen die Wahl-Opas und -Omas isoliert werden, die in der Gemeinschaft mit Kinder- und Hausaufgabenbetreuung eine erfüllende Aufgabe fanden?
Darüber entbrannten heiße Debatten. Genau wie die Bürger im Land spaltete das unsere Gemeinschaft, manche zogen sich ganz zurück. Da alle Kinder zuhause waren, stieg der Lärmpegel am Spielplatz: Manche fühlten sich gestört oder staunten über ungewohnte Reaktionen von Nachbarn: So kenne ich den/die gar nicht!

Im Sommer entspannte sich dank des großen Gartens die Lage, und das Leben im Freien ließ Corona fast vergessen, zumal niemand erkrankt war. Dann kam der Herbst, neuer Lockdown. Gruppentreffen, Yoga, Tanz, Feiern in Räumen, alles war wieder vorbei. Mini-Wahlfamilien und -Essensgemeinschaften wirken seither gegen die Vereinzelung, doch es fehlen die vielen Verbindungsfäden des „normalen“ Alltags, vor allem auf der Plattform unseres Hauscafés. So mehren sich Missverständnisse, Gerüchte, Misstrauen und leider auch Feindseligkeiten. Wenn man im Winter allein in seinem Stübchen sitzt oder überlastet mit Homeschooling und Homeoffice ist und nichts von den „Buschtrommeln“ hört, die sonst wichtige und unwichtige Dinge von Mensch zu Mensch tragen, kommt man leicht auf komische Gedanken: Warum meldet sich der eine nicht mehr? Wie war das gemeint, was die Nachbarin da sagte? Warum habe ich von der neuen Idee nichts erfahren? Wenn „Klatsch“ zu normalen Zeiten nerven kann, jetzt scheint er als „sozialer Kitt“ zu fehlen. Denn durch ständige Kommunikation werden manche Missverständnisse nicht nur geschaffen, sondern auch wieder ausgeräumt.
Die jetzt vorherrschende Corona-Stille im Treppenhaus, wo sonst viel Austausch stattfindet, ist manchmal beklemmend. Dagegen hilft das monatliche Online-Kerngruppentreffen nur begrenzt, zumal dort neue Differenzen entstehen, wie aktuell bei einem Thema, das Alt und Jung zu trennen scheint. Die Nachbarn durch viele kleine Fenster am Bildschirm zu erleben, lässt kein echtes WIR-Gefühl aufkommen.

 

Wenn mir unter diesen Bedingungen die Zimmerdecke meines Single-Apartments zu nahe rückt, denke ich dran, wie einsam es jetzt wäre, anonym in einem „normalen“ Wohnhaus zu leben. Ich bin dankbar für Hilfe beim Einkaufen, bei Reparaturen und dass es doch immer jemanden gibt, der mir mal zuhört. Und ich feiere, dass wir alle 100 bislang von Corona verschont blieben. Vielleicht hilft gemeinschaftliches Leben doch, bis ins hohe Alter eine stabile Gesundheit behalten, weil es mehr Sicherheit und Sinn bietet, wie man es von Nonnen berichtet.
Stolz macht mich, dass wir es auch im verflixten 7. Jahr geschafft haben (sogar im außerordentlichen Corona-Modus), durch alle Differenzen und Wogen hindurch Wege im Miteinander zu finden. Da hat sich unser zeitaufwändiges Kommunikationskonzept mit vielen Arbeitskreisen und systemischer Konsensfindung wohl doch bewährt.

Unser Gruppenraum wurde in der Corona-Zwangspause renoviert und wartet mit frischer gelber Farbe auf neues Leben in unserem 8. Jahr. Das wird noch viel Kreativität und Geduld von uns brauchen, um gestaltet zu werden – wir sind gespannt, was sich verwandeln lässt.

– Ein Überblick über das Wohnkonzept: https://www.wingmbh.de/

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