Das Poesie-Album – Erinnerung an gute alte Zeiten
Ich habe meines noch, das kleine Buch voller handgeschriebener Sprüche, Buntstiftzeichnungen und Klebebildchen – zu Weihnachten 1965 schrieb ich in schön geschwungener Schreibschrift meine Bitte auf die erste Seite:
Ihr lieben Leute groß und klein, haltet mir mein Album rein, und reißt mir keine Blätter raus, sonst ist es mit der Freundschaft aus.
Das wurde beherzigt und ich kann bis heute in den seidenweichen cremefarbenen Seiten lesen: Poetische Weisheiten von berühmten Dichtern, mit blauer Tinte und Liebe in Schönschrift eingetragen, von Schulfreunden, Verwandten, Lehrern. Etwas wehmütig streiche ich über den grün-senffarbenen Wollstoff des Einbandes, der mich an Sessel aus den 60er Jahren erinnert, auf denen ich als Kind lesen lernte. Sehnsucht kommt auf, nach den guten alten Zeiten jenseits von SMS und Instagram.
Manche poetischen Wünsche haben mich bis heute begleitet, wie der meines Vaters, der Friedrich Schiller zitierte:
„Solche wähle zu Begleitern auf des Lebens Bahn, die Dein Herz und Deinen Geist erweitern, Dich ermutigen, erheitern, mit Dir eilen himmelan.“
Zwischen den Worten bunte Bildchen, teils mit Glitzer bestreut, ein schwarzer Scherenschnitt mit Aschenputtel und selbst gezeichnete Kunstwerke, dazwischen ein kleiner Schreibfehler, fein mit Bleistift durchgestrichen – alles wohlgeordnet.
Poesiealben – eine jahrhundertealte Tradition
Ich frage mich: War das Poesiealbum eine Vorliebe von Mädchen und seit wann wird diese Schreibform gepflegt? Ich staune beim Recherchieren: seit dem 16 Jahrhundert schon! Vorläufer war das „album amicorum“ um die Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon in Wittenberg herum. Deren junge Studenten erbaten darin kurze Einträge ihrer Lehrer, damals noch in Latein. Bald kursierte das Stammbüchlein an allen Universitäten durch ganz Europa. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich Deutsch als Schriftsprache in den Alben durch und Frauen übernahmen zugleich diese Schreibform. Rund 50 Büchlein aus der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert finden sich als wertvolle Handschriften im Tresor der Universität Rostock. Und 120 Exemplare aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert liegen im Depot des Kulturhistorischen Museums Rostock.
Verschwundene Poesie
Da mag man gar keinen Vergleich mit heutigen Freunde-Büchern anstellen, in denen die Kinder nurmehr Name, Hobbies und andere Fakten ausfüllen, in denen die Schrift lässiger ist und die Poesie keinen Platz mehr hat.
Meine Nachbarin Miriam, in den Vierzigern, vermisst ihr Poesiealbum schmerzlich. Es muss bei einer Freundin hängengeblieben sein. Sie hatte das Büchlein mit ihrem Vater mit viel Hingabe selbst mit einem Holzeinband „gezimmert“. Miriam nahm das Schreiben in die Alben der Freunde sehr ernst und gab sich bei jedem Eintrag große Mühe bei der Auswahl der Texte und einer schönen Schrift.
Nachbarin Lili, in den 70ern, zeigt mir ihr Poesiealbum wie einen Schatz. Es beginnt 1958, Einband und Seiten vergilbt. Auch ihr wurde es einst nicht zurückgegeben und schien verschollen. Sie erzählt glücklich, dass es ihr die Mutter der säumigen Freundin bei der Beerdigung ihrer eigenen Mutter vor 14 Jahren zurückgab.
Ich frage mich, welche Erinnerungen der heutigen Generation bleiben, wenn Worte und Bilder in den sozialen Medien im schwarzen Loch des globalen Datenmeers verschluckt sein werden. Vielleicht können wir wenigstens ein Goethe-Zitat in unsere nächste WhatsApp-Nachricht packen.
1 Kommentar
Einen Kommentar abschicken
Bildnachweis: Melde
Ein wunderbarer Artikel, der Erinnerungen an die Zeit weckt, als man selbst ein solches Album geführt hatte. Dazu noch leicht und angenehm geschrieben. Vielen Dank dafür.