Wenn das Nest leer wird: Die Kunst, den Vogel fliegen zu lassen
Ich hab aus Versehen und ganz in Gedanken für sechs Personen gekocht. Obwohl außer mir niemand da war. Das war der entscheidende Moment. Der Moment, in dem das Empty-Nest-Syndrom so richtig kickte. Die Scheidung durch, die kleinste Tochter und ihr Freund sind gerade mitsamt Unmengen von Kartons und meinem Raclette ausgezogen – raus in die Welt zum Studieren – und da stand ich nun mit viel zu viel Pasta und fragte, in Ermangelung anderer Gesprächspartner, das Basilikum, was ich jetzt tun soll. Der Appetit jedenfalls war mir vergangen.
Ich will ehrlich sein: Die ersten Tage waren eine Katastrophe. Der Krach war weg. Nicht, dass ich ihn jemals geliebt hätte, aber die plötzliche Stille hatte etwas Beunruhigendes. Keine schmetternde Musik aus geschlossenen Zimmertüren, kein Zockergeschrei mit unflätigem Vokabular, keine bevorstehenden Klassenarbeiten, für die man abends um elf noch den Satz des Pythagoras erklären sollte und niemand, der einen Wocheneinkauf in fünf Minuten vertilgte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber ich hätte mich sogar gefreut, über Turnschuhe zu stolpern.
In meinem Zustand extremen Selbstmitleids habe ich mich an den Ratgeber Nummer eins in Krisensituationen gewandt: das Internet. Dort erfuhr ich, dass ich ein ganz klassischer Fall des Empty-Nest-Syndroms war. Ein Begriff aus der Psychologie, der sich auf die emotionalen Herausforderungen bezieht, die Eltern erleben, wenn die Kinder in die Welt ziehen. Man fühlt sich isoliert und verlassen, vor allem dann, wenn man seine Hauptrolle seit vielen Jahren darin sah, sich um den Nachwuchs zu drehen. Partner müssen plötzlich wieder damit klarkommen, dass der andere Kommunikationsbedarf hat und Alleinerziehende können Schwierigkeiten haben, ihren Platz in der Gesellschaft neu zu definieren.
Laut diversen Artikeln sollte ich jetzt am besten Yoga machen, ein Tagebuch der dankbaren Momente führen und meine Träume verwirklichen. Doch ehrlich gesagt, die einzigen Träume, die ich zu dem Zeitpunkt hatte, waren die, in denen ich endlich mal ausschlafen durfte, ohne dass jemand „Mamaaa, wo sind meine Turnschuhe?“ durchs Haus brüllt. Also entschied ich mich für das Naheliegende: Ich heulte erst mal.
Doch dann kam der Moment, in dem sich alles änderte. Ich beschloss, das leere Nest vor sich hinschweigen zu lassen und einen Ausflug zu machen. Und zwar allein. Ich schnappte mir mein Rad und fuhr ohne Ziel los. Niemand, der fragte, wann wir ankommen und ob es dort dann mal was Gescheites zu essen gibt oder ob es nicht doch sein könnte, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen habe. Denn die Richtung stimmte absolut: Ich war frei – ein seltsames Gefühl, das ich zu genießen begann. Ich hielt in einem kleinen Café an und bestellte mir einen Cappuccino, nur für mich. Dieser Moment markierte den Beginn einer neuen Phase in meinem Leben. Ich probierte Dinge aus, die ich vorher nie getan hatte. Ich entdeckte die Frau in mir wieder, nahm die eigenen Wünsche und Interessen wieder richtig wichtig. Es war fast so, als würde ich eine alte Freundin wiederfinden – mich selbst.
Und wenn meine Kinder mich besuchen, dann lächele ich nur, wenn sie sich über meine Musik beschweren oder darüber, dass im Kühlschrank nur die Reste vom Inder gestern stehen und ich gleich weg muss, weil ich verabredet bin. Das Ziel von Erziehung ist es nun mal, die Kinder selbstständig zu machen und im richtigen Moment aus dem Nest zu schubsen, damit sie alleine fliegen können. Gelingt das nicht, hat man etwas falsch gemacht. Denn irgendwann müssen sie schließlich ganz ohne mich auskommen. Und bis dahin – oder bis die ersten Enkelkinder bei mir „abgestellt“ werden – leb ich mein Leben jetzt mal wieder ganz so wie ich es will.
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