Die Zahl der Menschen mit Diagnose Autismus steigt stetig an – vor allem Kinder sind betroffen. Der Stab Familie hat mit Silke Bauerfeind gesprochen. Sie ist Mutter eines Autisten und seit 18 Jahren beruflich und ehrenamtlich im Bereich Autismus engagiert.

Auf ihrem Blog: https://ellasblog.de/ teilt sie ihr Wissen.

 

Was hat Sie dazu bewegt, einen Blog über Autismus zu schreiben?

Vor gut 10 Jahren suchte ich im Internet nach Erfahrungen von Familien, die ein autistisches Kind haben. Ich fand Vieles, aber nichts, das unserer Lebenswirklichkeit entsprach, dem Alltag mit einem nonverbalen Autisten, der per Gebärdensprache kommuniziert und einen hohen Unterstützungsbedarf mit Pflegegrad 5 hat. Ich fand viel über Autistinnen und Autisten, die deutlich mehr Handlungskompetenz haben als mein Kind. Aber ich fand keine Schilderungen von Eltern, die lückenlos – und damit meine ich wirklich jede Minute – ihr Kind begleiten, weil es anders nicht geht, das sonst Weglauftendenzen und selbstgefährdendes Verhalten einsetzen würde, wenn die Betreuung nicht gewährleistet ist.
So fand ich mich in einigen Schilderungen wieder, in anderen allerdings überhaupt nicht. Die Vielfalt des Autismus-Spektrums bringt mit sich, dass es eben nicht DIE Erfahrungsberichte gibt, die alles abdecken. Aus dieser Situation heraus entstand damals mein Wunsch, selbst zu schreiben. Schnell entstand eine große Leserschaft und so entstand nach und nach das Online-Magazin „Ellas Blog – Leben mit Autismus“ (www.ellasblog.de).

 

Welche Vorurteile über Autismus begegnen Ihnen im Alltag/bezogen auf Ihr eigenes Kind?

Viele Menschen denken, dass Autismus automatisch Hochbegabung und das Ausbilden von Spezialinteressen bedeutet. Das trifft auf einen Teil des Spektrums zu, aber bei weitem nicht auf alle. Es ist oft mühselig, darüber aufzuklären, dass es viele Autistinnen und Autisten gibt, die keinen medienwirksamen Wow-Effekt hervorrufen, sondern autismusspezifische Diagnosekriterien erfüllen wie zum Beispiel Besonderheiten in der sozialen Interaktion und der Kommunikation.

Mein Sohn spricht zum Bespiel nicht und kommuniziert per Gebärdensprache. Ein Vorurteil diesbezüglich ist, dass Menschen, die nicht aktiv sprechen, auch gesprochene Sprache nicht verstehen würden. Mein Sohn versteht aber nahezu alles, teilt sich selbst aber eben mit Gebärden mit.

 

 

 

Ein weiterer Irrglaube ist, dass Autistinnen und Autisten sich angeblich nicht in andere Menschen einfühlen können. Sie können aber sehr feinfühlig und mitfühlend sein, nur können Autisten die Gefühlslage ihrer Mitmenschen nicht automatisch an deren Mimik oder Gestik ablesen. Manche lernen daher mit Hilfe von Gesichter-Bildkarten auswendig, was ein trauriges, wütendes oder fröhliches Gesicht ist. Wenn sie dies erkennen oder ihnen erklärt wird, wie die Situation beschaffen ist, können sie sich einfühlen wie andere Menschen auch.
Mein Sohn macht sich viele Gedanken über die Menschen, die ihm nahestehen. Es ist ihm wichtig, dass es ihnen gut geht und er zeigt seine Gefühle dabei auf seine Weise.

 

 

Manchmal wird auch angenommen, dass Autistinnen und Autisten grundsätzlich kein Interesse an sozialen Kontakten hätten. Aber auch das ist nicht richtig. Wenn die Rahmenbedingungen passen, eine reizreduzierte Umgebung geschaffen wird mit Struktur und Rückzugsmöglichkeiten hat mein Sohn sehr gerne Kontakt mit anderen Menschen. Durch die veränderte Wahrnehmung und das damit ungewohnte Verhalten entstehen oft Missverständnisse, die sehr schade sind und zu Ausgrenzung führen.

 

Welche Rolle spielt die Familie bei der Unterstützung eines autistischen Kindes im Alltag?

Der Zusammenhalt und Aufklärung nach allen Richtungen spielt eine entscheidende Rolle. Es geht darum, ein stabiles und unterstützendes Umfeld zu schaffen, in dem jedes Familienmitglied sich sicher und verstanden fühlt, auch das autistische Kind.
Gleichzeitig ist es wichtig, jedem Familienmitglied genügend Raum zu geben, um seine individuellen Bedürfnisse auszuleben. Dabei kann man nicht immer alles mit „gleich viel Zeit“ oder „gleichen Aktivitäten“ aufwiegen. Gerade für Geschwisterkinder ist es wichtig, Exklusivzeiten einzuräumen, in denen individuelle Bedürfnisse im Vordergrund stehen können.
Die Unterstützung eines autistischen Kindes ist eine langfristige Aufgabe, die eine Familie alleine oft nicht stemmen kann. Daher ist es essentiell, frühzeitig ein Netzwerk aus Verwandten, Freunden und Fachleuten aufzubauen. Dieses Netzwerk bietet nicht nur praktische Hilfe und Entlastung, sondern auch emotionalen Beistand und Austauschmöglichkeiten. Ich erlebe immer wieder, dass es viel Zuversicht schaffen kann, wenn mit der Zeit immer mehr Personen dazu kommen, die verlässlich an der Seite von Familien stehen. Es hilft dabei, die Herausforderungen im Alltag besser und langfristig zu bewältigen, denn wir sprechen hier zumeist von einer lebenslangen Aufgabe.

 

Was ist die größte Stärke Ihres Sohnes?

Ich bewundere seine Geduld mit uns, wenn wir ihn manchmal nicht gleich verstehen.
Ich bewundere seine Tapferkeit, denn er hat schon viel aushalten müssen.
Ich liebe seinen Humor, mit dem er Menschen für sich gewinnt und für den er auch in den schwierigsten Situationen empfänglich ist.
Ich bewundere seine Gabe, Menschen für sich einzunehmen und sie „um seinen kleinen Finger zu wickeln“. Man kann ihm nicht lange böse sein, weil er so ein großes Herz hat und niemanden vergisst, der gut zu ihm ist.
Ich bewundere seinen Fleiß, die Gebärdensprache zu lernen, die sein und unser Leben absolut bereichert. Es war seine Idee, nicht unsere – dafür bin ich ihm zutiefst dankbar.
Ich bewundere seine Willensstärke und seine Cleverness, die mich zwar manchmal an den Rand von allem möglichen führen, mir aber auch zeigt, dass er sich zu wehren und zu behaupten weiß, wenn ich nicht bei ihm bin.

 

Was würden/wollen Sie anderen Eltern eines autistischen Kindes mit auf den Weg geben?

Puh, eine Frage, die schwer in Kürze zu beantworten ist, immerhin habe ich darüber mehrere Bücher geschrieben.
Herauskristallisiert hat sich in all den Jahren beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit vor allem die Erkenntnis, wie entscheidend Aufklärung und Information sind. Es ist so wichtig, sich als Eltern aktiv zu informieren und eine mündige Rolle einzunehmen. Manchmal fühlt es sich an wie ein Labyrinth, in dem man den richtigen Weg finden muss. Dabei geht es nicht nur darum, über Autismus Bescheid zu wissen, sondern auch die eigenen Rechte und die des Kindes zu kennen. Denn leider ist es so, dass uns wichtige Informationen zu unseren Rechten nicht auf dem Silbertablett serviert werden. Es erfordert Eigeninitiative, sich in diese Themen einzuarbeiten. Das kann manchmal überwältigend sein, aber es ist unerlässlich.
Seid mutig, eine eigene Meinung zu haben. Manchmal müssen wir als Eltern unseren Instinkten vertrauen und auch mal gegen den Strom schwimmen, wenn es dem Wohl unseres Kindes dient. Es ist ein Balanceakt zwischen dem Respekt vor Fachwissen und dem Vertrauen in die eigene elterliche Intuition. Je nachdem, an wen wir geraten, wird die Expertise von Eltern nicht immer gewertschätzt. Vertrete sie dennoch selbstbewusst und sachlich.
Kurz gesagt: Informiert euch, seid mutig und vertraut darauf, dass ihr als Eltern eure Kinder am besten kennt. Es ist okay, Fragen zu stellen, kritisch zu sein und nach den bestmöglichen Lösungen für eure Familie zu suchen.
Holt aber auch Fachexpertise ein und nehmt Hilfe an. Es ist kein Indiz für Versagen, wenn wir uns helfen lassen, sondern zeigt Verantwortung und niemand erwartet, dass wir alles alleine schaffen.
Vernetzt euch dafür online oder vor Ort mit anderen Eltern, denn die Erfahrung und das Wissen zu bündeln, dabei zu geben und zu nehmen, ist enorm bereichernd. Ihr seid nicht allein auf dieser Reise.

 

Wie können Schulen und Lehrkräfte am besten auf die Bedürfnisse von autistischen Kindern eingehen?

Eine effektive Unterstützung für autistische Kinder erfordert in der Regel eine starke Partnerschaft zwischen Elternhaus und Schule, bei der beide Seiten ihre Expertise einbringen. Lehrkräfte verstehen die pädagogischen Aspekte, während Eltern die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes am besten kennen. Eine offene Kommunikation, geprägt von gegenseitigem Respekt und ohne Schuldzuweisungen ist essentiell und erspart Missverständnisse und unnötige Schwierigkeiten. Durch regelmäßigen Austausch und abgestimmte Strategien können alle Beteiligten gemeinsam eine positive Lernumgebung schaffen, die dem Kind hilft, sich optimal zu entwickeln.
Konkret kann dies viele Anpassungen bei den Rahmenbedingungen bedeuten und an dieser Stelle möchte ich gerne auf die kostenlose Broschüre von „Autismus Mittelfranken e.V.“ verweisen, in der die Möglichkeiten detailliert nachgelesen werden können. Man findet sie auf der Webseite des Vereins, in dem ich ehrenamtlich aktiv bin:

www.autismus-mfr.de/infomaterial-broschueren/

 

Welche Hoffnungen und Träume haben Sie in Hinblick auf die Zukunft für autistische Menschen?

Ich würde mir wünschen, dass wir eine Gesellschaft schaffen, in der Inklusion und Akzeptanz nicht nur leere Worte sind, sondern gelebte Realität. Ich wünsche mir eine Welt, in der autistische Menschen in all ihrer Vielfalt anerkannt und wertgeschätzt werden, ohne dass sie sich verstellen oder anpassen müssen, um akzeptiert zu werden.
Mein Wunsch ist, dass Bildungseinrichtungen, Arbeitsplätze und die Gesellschaft insgesamt besser auf die Bedürfnisse autistischer Menschen eingehen. Dass individuelle Stärken und Fähigkeiten im Vordergrund stehen und nicht die Herausforderungen, die mit Autismus einhergehen können.
Vor allem denke ich an eine Welt, in der die Stimmen autistischer (auch nicht sprechender) Menschen gehört und in Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen werden. Eine Zukunft, in der jeder autistische Mensch die Möglichkeit hat, ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen, umgeben von einer Gemeinschaft, die Vielfalt in all ihren Formen schätzt.
Für meinen eigenen Sohn wünsche ich mir deshalb auch, dass er trotz seines hohen Unterstützungsbedarfs so selbstbestimmt wie möglich leben kann, dass er immer ein Netzwerk von Menschen um sich haben wird, das ihn versteht, schätzt und auf seine Bedürfnisse eingeht. Mit unserem individuellen Wohnprojekt (in-win.de) haben wir den Grundstein für sein Netzwerk gelegt.

Ganz herzlichen Dank für das Interesse am Thema Autismus und die persönlichen Fragen. Ich hoffe, einen kleinen Beitrag zur Aufklärung damit zu leisten und anderen Eltern Mut machen zu können!

 

3 Kommentare

  1. Hallo Louis Bennies,

    vielen Dank für deinen Kommentar.
    Ein tolles Projekt!

    Wir wünschen die viele Unterstützer und viel Spaß und Erfolg bei deiner Arbeit!

    Antworten
    • Hallo, wäre es möglich, meine Kommentare zu löschen, aufgrund des Links zur unfertigen Fassung?

      Liebe Grüße

      Antworten
      • Hallo Louis Bennies,

        ich habe den Kommentar gelöscht. Falls wir wieder etwas online stellen sollen, sagen Sie gerne Bescheid.

        Herzliche Grüße und weiterhin viel Erfolg,
        Nicole Hummel

        Antworten

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